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SchoolMatters




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21. Dezember 2021

09 Suizidalität und die Rolle der Schule

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9.4 Management von Krisen und Notfällen

Eine Krisensituation wird als «plötzlich auftretendes, unerwartetes und aussergewöhnliches Ereignis […], das für die Betroffenen und ihr Umfeld eine schwere Belastung darstellt», definiert [1]. Krisensituationen stellen die psychische Gesundheit der Betroffenen enorm auf die Probe: Die in solchen Situationen in der Regel auftretenden aussergewöhnlich starken Emotionen können dazu führen, dass die Betroffenen in der Situation selbst oder in der Folge gefährdet sind, ihren (schulischen) Alltag nicht mehr zu bewältigen.

Unter anderem können folgende Krisensituationen Einfluss auf die Schule und die psychische Gesundheit von Lehrpersonen und Schülerinnen/Schülern haben:

  • Unfalltod, Mord, schwere Verletzung oder tödliche Krankheit von Schülerinnen/Schülern, Lehrpersonen oder nicht-unterrichtendem Personal,
  • Suizid(-versuch) von Schulmitgliedern,
  • verloren gegangene oder verletzte Schüler:innen (oder Gruppen) auf einer Exkursion,
  • schwerer Vandalismus,
  • das Ansehen der Schule schädigende Medienberichte/Schlagzeilen oder
  • Natur- oder sonstige Katastrophen/Pandemien (z.B. COVID-19) in der Schulumgebung.

Obschon jede Krise individuelle Dynamiken aufweist und deshalb auch immer wieder neu verstanden und erlebt werden muss, sind stets drei Einschätzungen beim Umgang mit kritischen Lebensereignissen entscheidend [2]:

  • die Einschätzung der Bedrohung der Situation für einen selbst,
  • die Einschätzung der Handlungsmöglichkeiten,
  • die Einschätzung des Erfolgs des eigenen Handelns.

Drei wesentliche Ziele von Kriseninterventionen sind [3]:

  • zeitnahes Stabilisieren durch angemessene Betreuung der Betroffenen,
  • zeitnahes Informieren über Ereignis, Notwendigkeiten, Handlungsabläufe und Belastungsreaktionen,
  • zeitnahes Zur-Verfügung-Stellen von Ressourcen und Know-how, Normalisieren extremer Reaktionen, Mobilisieren eigener Bewältigungsressourcen und externer Unterstützungssysteme.

Welchen Beitrag kann Gesundheitsförderung zur positiven Bewältigung von akuten Krisen in Schulen leisten?
Das Wohlbefinden in der Schule stellt eine wesentliche Voraussetzung dar, um aktiv Handlungen zu setzen. Die Frage nach den Quellen des Wohlbefindens ist daher von besonders grosser Bedeutung. Zentral sind hier die psychologischen Grundbedürfnisse «persönliches Kompetenzerleben», «Autonomie» und «soziale Eingebundenheit». Diese Faktoren sind auch bedeutende Ressourcen für die positive Bewältigung einer Krise. Angst und Unsicherheit beeinträchtigen nicht nur das Wohlbefinden, sondern wirken sich auch auf die Einschätzung der Zukunft aus [4].

Schulen, die in ihrem Schulprogramm einen Fokus zur Förderung der psychischen Gesundheit entwickelt haben oder ihr bestehendes Schulprogramm um diesen Aspekt erweitern, können wahrscheinlich in Krisensituationen effektiver agieren (vgl. Tool 6). Dabei sollte die Umsetzung die besonderen Gegebenheiten der Schule (inkl. Tagesstrukturen) und ihrer Schulmitglieder berücksichtigen und die Aspekte Krisenmanagement und Prävention von Jugendsuizid enthalten.

Ein Programm zur Förderung der psychischen Gesundheit wie MindMatters kann dabei u.a. auch helfen, die Angebote externer Organisationen, z.B. zur Suizidprävention in der eigenen Schule, besser einschätzen zu können. Darüber hinaus kann mit der Förderung der psychischen Gesundheit eine gesundheitsfördernde Schule aufgebaut werden (vgl. hierzu das Qualitätsraster aus Kapitel 10.2) und gleichzeitig einen Beitritt ins Schulnetz21 (www.schulnetz21.ch) begünstigen.

Mit einem Handlungsleitfaden auf Krisensituationen vorbereitet sein

Der Grad der direkten und langfristigen Auswirkungen einer Krisensituation auf die Schulgemeinschaft hängt unmittelbar von der Effektivität der Vorsorgemassnahmen und der Schnelligkeit der Reaktionen der Schule ab. Schulen, die sich bereits gedanklich mit einer solchen Situation auseinandergesetzt und einen gemeinsamen Handlungsleitfaden für Krisensituationen entwickelt haben, sind im Vorteil, da dieser Plan sofort in Kraft treten kann und er der Schule Sicherheit und Klarheit über die ersten Schritte gibt. Es bleibt dann auch genügend Zeit für die wichtige Betreuung der Schüler:innen, Kolleginnen/Kollegen, Eltern und weiterer Schulmitglieder. Eine schnelle und angemessene Reaktion der Schule auf Krisensituationen kann kurzfristige wie langfristige Konsequenzen des Traumas minimieren, während übertriebener Aktionismus und unkoordinierte Reaktionen die langfristigen (psychischen) Folgen für die Schulmitglieder verschlimmern können. Zudem gibt das Vorhandensein eines Leitfadens auch in ruhigen Zeiten zusätzliche Sicherheit und zeigt, dass sich die Schule um das Wohlbefinden ihrer Mitglieder kümmert.

Die Entwicklung eines solchen Leitfadens braucht aber Zeit und den Mut der Beteiligten, sich gedanklich mit einer Situation zu befassen, die hoffentlich nie Realität wird. Schulverantwortliche mögen einwenden, dass sie ziemlich sicher nicht betroffen sein werden und keine rechte Notwendigkeit für die Entwicklung eines Handlungsplans sehen. Allerdings sind Krisen schwer voraussehbar und können jede Schule treffen.

Ein Handlungsleitfaden enthält klare und eindeutige Prozeduren und beschreibt, welche (Unterstützungs-)Massnahmen in Krisensituationen und für die Nachsorge (vgl. Kapitel 9.5) eingeleitet werden müssen, wie z.B.:

  • Besprechen des Ereignisses mit den Schülerinnen und Schülern,
  • Medien über das Ereignis in Kenntnis setzen,
  • Identifizieren von gefährdeten Schulmitgliedern,
  • Informieren der Eltern sowie Zusammenarbeit mit den Eltern,
  • Einbeziehung der Schule in die Trauerarbeit (z.B. Teilnahme an der Beerdigung).

Wichtig ist, dass die definierten Reaktionen und Abläufe von allen Schulmitgliedern verstanden und dass auch neue Mitarbeitende mit dem Leitfaden vertraut gemacht werden. Aber nicht nur das Verstehen, auch die Akzeptanz ist für die Umsetzung des Leitfadens massgeblich. Schon in der Entwicklungsphase (später auch in Überarbeitungsphasen) ist es daher wichtig, eine Vielzahl verschiedener Gruppen innerhalb und ausserhalb der Schule einzubeziehen. Am besten beginnt man mit Beratungen der Schulmitglieder untereinander. Nach der Fertigstellung werden die Schulmitglieder darüber informiert, welche Rolle ihnen speziell zugewiesen wurde bzw. was sie im Falle einer Krisensituation konkret tun müssen.

Es ist unwahrscheinlich, dass ein Leitfaden auf Anhieb alles abdeckt. Er muss entsprechend regelmässig überprüft, ergänzt und an die aktuelle Situation der Schule angepasst und alle Schulmitglieder müssen über Änderungen möglichst umgehend informiert werden.

Das Tool 7 unterstützt Sie bei der Entwicklung des Handlungsleitfadens und schlägt folgendes Vorgehen vor:

  • Ernennung eines Teams,
  • Entwicklung oder Überarbeitung des Handlungsplans für Krisensituationen,
  • Entwicklung eines Plans für Nachsorgemassnahmen.

Konsultieren Sie kommunale oder kantonale Leitfäden als Vorlagen, wie zum Beispiel den Leitfaden «Krisen und Notfälle in Schulen» von der Dienststelle Volksschulbildung (DVS) Luzern

An die Schulleitung persönlich

Wichtige Merkmale und Voraussetzungen für Kriseninterventionen

«Krisenintervention will stabilisieren, informieren, mobilisieren und normalisieren. Die Betroffenen stabilisieren, beruhigen, ihnen Sicherheit und Orientierung geben; sie über das Ereignis, seine Folgen, Handlungsabläufe, Belastungsreaktionen etc. informieren; externe Unterstützungssysteme, Netzwerke und persönliche Ressourcen mobilisieren sowie extreme Reaktionen und deren Folgen mildern und normalisieren.
Hilfreich für die Leitung/Mitarbeit in einem Krisenteam (KT) ist sicherlich auch die eigene Erfahrung im Umgang mit Krisen, Tod und Leiden. Die eigenen Grenzen und Möglichkeiten zu kennen, schützt Sie vor Gefährdung, Überforderung, Belastungsreaktionen und Traumatisierung. Im Hinblick auf organisatorische und koordinatorische Aufgaben im KT sollten Sie flexibel sowie kurzfristig belastbar und stressresistent sein. In leitender Funktion ist es hilfreich, wenn Sie zusätzlich über starke Führungsqualitäten, kommunikative Fähigkeiten und Authentizität verfügen. Im intervenierenden Bereich sind die herausragenden Kriterien die Fähigkeit, auf Betroffene zugehen zu können, unaufdringlich Hilfe anzubieten, Vertrauen aufzubauen, zuhören zu können, aber auch Schweigen oder gar Ablehnung aushalten zu können.

Noch ein Wort zum Selbstschutz:
Verschaffen Sie sich immer zuerst einen Überblick über die oft chaotische Situation. Versuchen Sie Gefahren zu erkennen und entsprechend überlegt zu handeln. Organisieren Sie weitere Hilfe und lassen Sie sich rechtzeitig ablösen. Sind Sie selbst in einer schweren Krise (z.B. Scheidung, Krankheit, Tod eines Angehörigen etc.), ist es nur verantwortungsvoll, wenn Sie selbst nicht tätig werden, sondern Ihren Vertreter bitten, Ihre Aufgaben zu übernehmen.
Nach einem belastenden Einsatz im KT sind eine Nachbesprechung untereinander sowie ggf. eine Supervision selbstverständlich. […]»

 

Quelle: Anregungen zu Kriseninterventionen aus dem Thüringischen Kultusministerium (2006). Details nachzulesen z.B. in: Nikendei, A. (2012).

1    EDK (2004)
2    Gräser, Esser & Saile (1995)
3    Nikendei (2012)
4    Scharinger (2020)