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SchoolMatters




07 Diversität und Eingebundenheit

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7.1 Gemeinschaft und psychische Gesundheit

Das Gefühl, einer Gemeinschaft von Menschen zugehörig und mit ihr verbunden zu sein, ist eine wichtige Voraussetzung für Resilienz (siehe Box). Die Zusammengehörigkeit kann sich z.B. auf den Ort, das Geschlecht, die Kultur, politische oder religiöse Überzeugungen beziehen. Gemeinschaften vermitteln ihren Mitgliedern Beziehungsmuster und Werte. Die Schulgemeinschaft zeichnet sich u.a. durch den gleichen Wohn- und Arbeitsort sowie gleiche Aufgaben und Ziele aus. Eingebundenheit bzw. Entfremdung beeinflussen die psychische Gesundheit in positiver bzw. negativer Weise beträchtlich. Damit sich Schüler:innen wie auch das Kollegium eingebunden fühlen können, spielt ein gutes, wohlwollendes, inklusives Schul- und Klassenklima eine wichtige Rolle (vgl. auch Kapitel 3).

Resilienz (psychische Widerstandskraft)
Resilienz meint die Fähigkeit, mit Veränderungen und Herausforderungen zurechtzukommen und sich nach schwierigen Zeiten wieder erholen zu können. Beim Aufbau von Resilienz sind folgende Faktoren von Bedeutung:

  • Verbundenheit zur Familie, Peergroup, Schule
  • Beziehung zu einer fürsorglichen erwachsenen Person
  • Unterstützung, Zugehörigkeit, Vorbilder
  • Selbstwertgefühl
  • Vertrauen in die eigenen Bewältigungsstrategien
  • Gefühl der Kontrolle

Das Gefühl der Verbundenheit mit einer Gemeinschaft kann Menschen helfen [1]:

  • eine kulturelle Identität zu entwickeln,
  • die Bedeutung von Familie zu verstehen,
  • selbstbewusst zu werden,
  • logisch zu denken,
  • ihr intellektuelles Potenzial effizienter auszuschöpfen,
  • ein Gewissen zu entwickeln,
  • mit Stress und Frustration umzugehen,
  • mit Angst und Sorgen zurechtzukommen und
  • zukünftige Beziehungen aufzubauen.

Vielen Menschen gelingt es, sich erfolgreich zwischen mehreren Gemeinschaften zu bewegen. Solche Erfahrungen stärken die Resilienz. Sie fördern das Verständnis für Verschiedenheit und vermitteln das Gefühl, auch angenommen zu werden, wenn man nicht ganz gleich ist oder gleiche Ansichten vertritt wie die anderen Mitglieder. Schüler:innen bewegen sich unausweichlich zwischen ausserschulischer und innerschulischer Gemeinschaft. Für Schüler:innen, bei denen sich diese Gemeinschaften ähneln, ist dies verhältnismässig einfach. Sind die Gemeinschaften hingegen gegensätzlich ausgeprägt, kann es für Schüler:innen schwierig sein, von einer Gemeinschaft in die andere zu wechseln. Das kann zu Gefühlen der Entfremdung führen und als erhebliche Belastung erlebt werden.

Die praktischen Übungen «von Entfremdung zu Verbundenheit» fürs Kollegium und die Schüler:innen können hier einen Impuls geben.

Bildungslandschaften und psychische Gesundheit
Da das sozio-emotionale Wohlbefinden von Schülerinnen und Schülern durch das Zugehörigkeitsgefühl zur ausser- und innerschulischen Gemeinschaft gefördert wird, können auch Verbindungen und Partnerschaften der Schule mit den ausserschulischen Gemeinschaften einen wichtigen Beitrag für das Lehren, Lernen und die Schulkultur liefern. In Partnerschaften zu arbeiten, bringt der Schule unbezahlbare Ressourcen und Beziehungen, zu denen sie andernfalls keinen Zugang hätte. Éducation21 – das nationale Kompetenz- und Dienstleistungszentrum für Bildung für Nachhaltige Entwicklung (BNE) in der Schweiz – unterstützt sogenannte Bildungslandschaften (vgl. Kapitel 3.4 und www.bildungslandschaften.ch).

Kultur und psychische Gesundheit
MindMatters versteht Kultur als ein Netzwerk von Überzeugungen, Werten, Einstellungen und Verhaltensweisen, die in einer Gemeinschaft auftreten. Kulturen sind dynamisch und verändern sich im Laufe der Zeit. Sie passen sich an andere Kulturen, Umwelten, verfügbare Ressourcen und Technologien an. Innerhalb einer Kultur gibt es viele individuelle, gruppenabhängige und subkulturelle Unterschiede. Jeder Mensch verkörpert eine Kultur, die von Geburt an erlernt wird – sie ist nicht genetisch bzw. biologisch festgelegt. Diese Kultur ist aber so sehr ein Teil von uns, dass wir nicht oder nur selten merken, dass sie uns lenkt. Sie ist ein integraler Bestandteil unseres Denkens, Fühlens und Verhaltens [2].

Kulturen können Menschen, die sich mit ihnen verbunden und in ihnen verankert fühlen, als Energiequelle dienen. Sie können aber auch eine Quelle für Schwierigkeiten sein, nämlich für diejenigen, die sich «nicht an die Regeln halten» oder die eine Kultur, in der sie sich bewegen, nicht verstehen. Menschen mit multikulturellem Hintergrund müssen Wege aushandeln, wie sie sich zwischen den Kulturen bewegen können.

In Nationen, Gesellschaften oder Gemeinden gibt es stets dominante und randständige Kulturen. Die dominante Kultur kann bestimmte Verhaltensweisen, Arten des Sprechens und der Interaktion bevorzugen. Oberflächlich betrachtet erscheint es vielleicht so, dass das Schulcurriculum und die Schulumwelt die verschiedensten Kulturen gleichberechtigt einschliessen. Es muss aber genau beachtet werden, ob und auf welche Weise eine dominierende Kultur möglicherweise einige bevorteilt und andere an den Rand drängt. Strittig ist in diesem Zusammenhang auch die Frage, ob Menschen aus marginalisierten Kulturen lernen müssen, sich den dominierenden Kulturen anzupassen, und ob dies geschehen kann, ohne die eigene Kultur aufgeben zu müssen.

Identität und psychische Gesundheit
Identität beinhaltet all das, was eine Person einmalig und unverwechselbar macht – sowohl aus der Sicht der Person selbst als auch aus der Sicht ihrer sozialen Umgebung. Die Identitätsfindung ist dynamisch und erstreckt sich über die gesamte Lebensspanne [3]. Sie wird bestimmt durch:

  • Geschlecht und Sexualität,
  • Gemeinschaft, Kultur und Religion,
  • Familienbeziehungen und -situation,
  • religiöse und politische Überzeugungen,
  • Beziehungen zu Gleichaltrigen,
  • ökonomischen Status, Position am Arbeitsplatz und in der Gemeinschaft,
  • Gemeinschaftsnetzwerke und Unterstützung,
  • Intellekt und individuelle Lernstile sowie
  • Herkunft/geografische Position.

Besondere Probleme der Identitätsfindung können während der Adoleszenz auftreten, einer Phase grosser Veränderungen (z.B. in Bezug auf Körper und Sexualität). In dieser Zeit beschäftigen sich die Heranwachsenden mit Fragen wie «wer bin ich?», «wozu gehöre ich?» und «wo will ich hin?». Wie es den Jugendlichen gelingt, mit diesen Identitätsfragen zurechtzukommen, ist dabei eng verknüpft mit ihrem Verbundenheitsgefühl (zur Gemeinschaft, Schule, Familie, Gleichaltrigen etc.) und mit ihrer Resilienz.

Um die eigene Identität erleben zu können, ist es wichtig, dass das Selbstbild mit dem Bild, das sich andere von einem machen (Fremdbild), grundsätzlich übereinstimmt. Wird die eigene Identität dadurch bedroht, dass die Lücke zwischen dem Selbst- und Fremdbild immer grösser wird, kann dies ernste Folgen für die psychische Gesundheit eines Menschen haben.

Zwei Beispiele für Differenzen in der Selbst- und Fremdwahrnehmung und die Folgen für die psychische Gesundheit:

  • Eine Schülerin hat Diabetes, mit der sie seit einigen Jahren gut umgehen kann. In ihrer Schule wird sie aufgrund der Erkrankung jedoch so behandelt, als wäre sie hilfsbedürftig. Dies lässt sie an sich selbst zweifeln, da sie stets an ihre Fähigkeit geglaubt hat, sich um sich selbst kümmern zu können und unabhängig zu sein. Sie zieht sich zurück, will nicht mehr an Klassenreisen und Ausflügen teilnehmen.
  • Medien und Werbung vermitteln häufig unrealistische Bilder zu Aussehen und Körper und knüpfen diese an Glück, Erfolg und Zufriedenheit. Noch nie war der Druck auf Jugendliche, «körperlich perfekt» zu sein, so gross wie heute. Dementsprechend streben sie oft nach unerreichbaren Schönheits- und Gewichtsidealen und leiden psychisch, wenn sie sie nicht erreichen. Dies führt in hohem Mass dazu, dass Jugendliche ihren Körper nicht mehr richtig wahrnehmen und ihr Selbstwertgefühl und die Selbstakzeptanz verringert wird.(vgl. Kapitel 7.6).

Je widerstandsfähiger eine Person ist, desto wahrscheinlicher ist es, dass eine Lücke zwischen Selbstbild und Fremdbild einen geringeren Einfluss auf die psychische Gesundheit hat. Denn eine widerstandsfähige Person verfügt über relevante Schutzfaktoren der psychischen Gesundheit und ist in solchen Situationen eher in der Lage, mit Belastungen umzugehen. Faktoren, wie z.B. günstige Kommunikations- und Problemlösefähigkeiten, ein stabiles Selbstwertgefühl und das Eingebundensein in ein soziales Netzwerk funktionieren, dabei wie ein Puffer.

Aspekte der Entfremdung und entsprechende Handlungsmöglichkeiten
Massnahmen für eine Stabilisierung und Verbesserung von (Risiko-)Situationen sollten zu einem möglichst frühen Zeitpunkt getroffen werden. Bei allen Massnahmen stehen das Wohl der Betroffenen und das Gefühl der Eingebundenheit im Zentrum. Sich sozial eingebunden zu fühlen, ist ein fundamentaler Bestandteil der psychischen Gesundheit. Deshalb werden nachfolgend die Anzeichen und Handlungsmöglichkeiten bei einer Entfremdung aufgeführt.

7.1 Aspekte der Entfremdung Tabelle: Aspekte der Entfremdung und Handlungsmöglichkeiten der Schule

Weitere Anzeichen und Handlungsmöglichkeiten finden Sie in den Kapiteln zu Mobbing (vgl. Kapitel 8) und Suizidalität (vgl. Kapitel 9).

Die praktischen Übungen «von Entfremdung zu Verbundenheit» fürs Kollegium und die Schüler:innen können hier einen Impuls geben.

1    Swan & Raphael (1995)
2    Spindler & Spindler (1994)
3    Wiesse & Joraschky (2007)