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28. April 2022 | Flavia Glanzmann, RADIX Schweizerische Gesundheitsstiftung (Kapitel 6.6 & 6.7)

07 Diversität und Eingebundenheit

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7.7 Young Carers

Ein grosses Dankeschön an Agnes Leu und Ihr Team von der Careum Hochschule Gesundheit für die Mitarbeit in diesem Kapitel.

Zu den sogenannten Young Carers (YC) gehören «Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren, die ein Familienmitglied oder eine nahestehende Person, die von chronischer Krankheit, Unfall, Beeinträchtigung, Gebrechlichkeit oder Sucht betroffen ist, pflegen, betreuen oder unterstützen. Sie übernehmen, oftmals regelmässig, wesentliche und/oder umfangreiche Betreuungsaufgaben mit einer Verantwortung, die normalerweise mit Erwachsenen in Verbindung gebracht wird» [1]. Häufig ist die unterstützte Person ein Elternteil, Geschwister oder Grosselternteil, es kann sich aber auch um eine andere Person aus dem nahen Umfeld handeln. Häufig ist die unterstützte Person ein Elternteil, Geschwister oder Grosselternteil, es kann sich aber auch um eine andere Person aus dem nahen Umfeld handeln.

In der Schweiz geht man davon aus, dass es allein in den 4.–9. Klassen (also bei den 9- bis 15-Jährigen) rund 38’400 Young Carers gibt, das entspricht 7.9 Prozent dieser Altersgruppe [2]. Ihre Rolle wird jedoch öffentlich meist wenig wahrgenommen. Die Zahlen variieren je nach Region [3]. Internationale Studien [4] erklären regionale Unterschiede u.a. mit dem beispielsweise in ländlichen Regionen erschwerten Zugang zu Unterstützungsangeboten aufgrund fehlender Informationen oder aus finanziellen resp. geografischen Gründen sowie mangelnder Koordination seitens der Unterstützungsdienste. Wenn Kinder Betreuungsaufgaben übernehmen, liegt das durchschnittliche Anfangsalter bei 10 Jahren. Jedoch geben 11 Prozent der Kinder und Jugendlichen an, ihre Betreuungsaufgaben bereits im Vorschulalter (d.h. vor Vollendung des 7. Lebensjahrs) begonnen zu haben [5].

Auswirkungen der Betreuungs- und Pflegerolle auf die Young Carers
Die Betreuungs- und Pflegerolle kann einige positive Auswirkungen haben. Young Carers können beispielsweise Zufriedenheit aus den Betreuungsaufgaben gewinnen und im Selbstwertgefühl, in der Empathie und der Reife gestärkt werden [6]. Sie sind verantwortungsbewusst und entwickeln vielfach praktische und soziale Fähigkeiten und Kompetenzen [7]. Zudem zeigen sie ein höheres Mass an Unabhängigkeit im Vergleich zu Peers ohne Unterstützungsrolle [8]. Die Betreuungsrolle kann auch dazu beitragen, dass viele Kinder ihren Eltern in Bezug auf Liebe, Fürsorge und Beziehung näherkommen [9].

Dennoch kann es erdrückend sein, die Herausforderungen, die das Leben und die Schule an sie stellen, mit den Betreuungsaufgaben in Einklang bringen zu müssen. In vielen Fällen berichten Young Carers von körperlichen Gesundheitsproblemen (z.B. Müdigkeit, Rückenschmerzen) und negativen emotionalen (z.B. Trauer, Angst, Schuld oder Scham), sozialen (z.B. Isolation, Mobbing, Stigmatisierung) sowie ausbildungsbezogenen (z.B. Schulabsentismus, Ausbildungsabbrüche und Teilzeitbeschäftigung) Erfahrungen [10]. Der mit der Rolle eines Young Carers einhergehende Druck wird als Risikofaktor für psychische Erkrankungen gewertet [11]. Weiter weisen Young Carers häufig ein niedrigeres Wohlbefinden auf als ihre Altersgenossen ohne Betreuungs- und Unterstützungsaufgaben [12]. Sie haben möglicherweise weniger Zeit für die persönliche Entwicklung und Freizeit und sind isoliert [13]. Young Carers können auch Opfer von sozialer Stigmatisierung und Mobbing werden und sind während ihres gesamten Lebens häufiger sozialer Ausgrenzung ausgesetzt. Als Gründe werden u.a. das mangelnde Verständnis von Gleichaltrigen die Lebensumstände und die erheblichen Schwierigkeiten beim erfolgreichen Übergang von der Kindheit ins Erwachsenenalter genannt [14].

Nachfolgende Abbildung zeigt Auswirkungen der Young-Carers-Rolle – der Schlüssel liegt darin, die negativen Auswirkungen zu reduzieren und gleichzeitig die positiven zu bewahren.

7.6 Auswirkungen Young Carers Abbildung: Positive und negative psychische und physische Folgen der Young-Carers-Rolle

Handlungsmöglichkeiten der Schule
Die Schule kann für Young Carers ein Ort sein, an dem sie ihre Betreuungs- und Unterstützungsaufgaben vergessen und sich für eine Weile «normal» fühlen können. Die Schule kann aber auch ein Ort sein, an dem sie unter zusätzlichem Druck stehen oder an dem die Leute nicht verstehen, wie ihr Leben ausserhalb der Schule aussieht. Es kann für Young Carers manchmal schwer sein, die Verantwortlichkeiten zu Hause mit den Anforderungen von Lehrpersonen, Kolleginnen/Kollegen und mit den Hausaufgaben unter einen Hut zu bringen. Dazu kommt, dass Young Carers sich oft nicht selbst als solche identifizieren [15]. Selbst wenn sie es tun, sprechen sie aus Angst vor Stigmatisierung nicht darüber. Sie befürchten z.B., dass die Behörden aufmerksam werden könnten und sie von der Familie getrennt werden.

Insgesamt sind die Sichtbarkeit, das Bewusstsein und das Verständnis für Young Carers in der Schweiz sowohl auf lokaler als auch regionaler und nationaler Ebene eher gering [16]. Damit die Schule Young Carers helfen kann, muss sie sich also überhaupt erst einmal für das Thema sensibilisieren. Dass Schulen dies tun, ist besonders wichtig, denn keine andere Berufsgruppe verbringt so viel Zeit mit Young Carers wie die der Lehrpersonen [17]. Indem sie als Ansprechpartner:innen für Probleme zur Verfügung stehen oder sich nach dem Befinden der Schüler:innen oder deren Verwandten erkundigen, können sie emotionale Unterstützung bieten [18]. Dabei gilt es, die eigenen Grenzen zu wahren, um sich selbst als Lehrperson vor Überforderung und Überlastung zu schützen [19]. Nur so kann Hilfe funktionieren.

  • Müdigkeit als eine direkte Folge von Pflege und Unterstützung,
  • Konzentrationsstörungen und fehlende Partizipation am Unterricht aufgrund der Sorgen um den Gesundheitszustand der Angehörigen sowie um die eigene Gesundheit und Zukunft,
  • Verhaltensauffälligkeiten in Form von Ängstlichkeit, psychosomatischen Störungen, Aggression, Hyperaktivität oder Regelverletzungen,
  • Mobbing durch Mitschüler:innen, da die Beeinträchtigungen von Angehörigen Angriffsfläche bieten können,
  • eingeschränkte Sozialkontakte als Folge eines sozialen Rückzugs oder eines bewussten Verbergens der Familiensituation,
  • Leistungsabfall mit Auswirkungen auf die gesamte Bildungspartizipation,
  • schulabsentes Verhalten, das von Zuspätkommen über stundenweises Fehlen bis hin zu mehrtägiger Abwesenheit reicht, sowie
  • Vernachlässigung von Hausaufgaben.
  • Bewusstsein für das Phänomen der Young Carers und ihre Situation schaffen (z.B. Weiterbildungen)
  • Rahmenbedingungen zur Förderung und Unterstützung schaffen (z.B. im Leitbild, Massnahmenplan)
  • Ansprechpartner:in benennen (z.B. Vertrauenslehrperson),
  • Austausch mit anderen Berufsgruppen und Hilfe bei der Suche nach professioneller Unterstützung in Absprache mit den Eltern.

Die negativen Aspekte der Betreuungsaufgabe verringern die Chancengerechtigkeit für Young Carers. Dies kann ihre soziale Teilhabe verhindern und sich auf ihre lebenslange Entwicklung auswirken [22]. Um eine Chancengleichheit im Bereich Schule, Aus- und Weiterbildung herzustellen, braucht es Fachpersonen, die erkennen, dass sich jemand in einer solchen Situation befindet. Die betroffenen Schüler:innen müssen zudem wissen, wohin sie sich wenden können. Verschaffen Sie dem Thema deshalb mehr Sichtbarkeit und informieren Sie auch über mögliche Anlaufstellen und Beratungsangebote für junge Menschen ausserhalb der Schule, z.B.:

  • Treffen für Young Carers, Careum Hochschule Gesundheit
  • 147: Beratungstelefon für Kinder und Jugendliche bis 25 Jahre
    24 Stunden, gratis, anonym (der Anruf erscheint nicht auf der Telefonrechnung)
  • Institut Kinderseele Schweiz iks. Schweizerische Stiftung zur Förderung der psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen
  • Careum Hochschule Gesundheit, Bereich Forschung: Programm Young Carers
  • Informationen und Hinweise zur Berichterstattung in den Medien zum «Thema Young Carers»: www.kalaidos-fh.ch/de-CH/Forschung/Fachbereich-Gesundheit/Young-Carers/Informationen
  • Broschüre des Projekts «Pausentaste – Wer anderen hilft, braucht manchmal selber Hilfe» inkl. Handlungsleitfaden für den Umgang mit betroffenen Schüler:innen. PDF hier. 
  • Young Carer | Bereich Jugendliche: feel-ok.ch/yc
  • Arbeitsblatt für die Schule und Checkliste, um YC zu identifizieren: feel-ok.ch/+yc

1    Becker (2000)
2    Leu et al. (2019)
3    Otto et al. (2019)
4    Becker & Becker (2008); Hill et al. (2009)
5    Otto et al. (2019)
6    Wepf, Joseph & Leu (2021); Banks et al. (2001); Cass et al. (2009); Cassidy et al. (2014); Heyman & Heyman (2013); Joseph et al. (2009); Robson et al. (2006).
7    Otto et al. (2019)
8    Morin, Nelson, & Corbo-Cruz (2015)
9    Gough & Gulliford (2020); Watson, & Fox (2014)
10   Aldridge & Becker (1993); Barry (2011); Becker & Sempik (2018); Bjorgvinsdottir & Halldorsdottir (2014); Kaiser & Schulze (2014); Leu et al. (2018); Moore et al. (2009)
11   Aldridge & Becker (2003); Ali et al. (2015); De Roos et al. (2017)
12   Leu et al. (2018)
13   Pakenham et al. (2006)
14   Dearden & Becker (2000); Becker & Becker (2008), Barry (2011)
15   Leu, Frech & Jung (2018)
16   Leu et al. (2020); Leu & Becker (2017).
17   Metzing (2007)
18   Kaiser (2017)
19   Salzmann, Kliem & Ehmke (2019)
20   Becker, Dearden &Aldridge (2002)
21   Dearden & Becker (2000)
22   Schweizerisches Gesundheitsobservatorium (2020)